15.07.2021, zns bdn bvdp bvdn

Aufbruch bei der Behandlung der Alzheimer-Demenz

Am 7. Juni hat die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA den monoklonalen Antikörper Aducanumab (Aduhelm®) für die Behandlung der Alzheimer-Demenz zugelassen (1). Nach über 20 Jahren Stillstand in der medikamentösen Therapie endlich ein Fortschritt für die Behandlung einer der schwersten und gleichzeitig häufigsten Hirnerkrankungen. Eigentlich ein Grund zum Jubeln, wenn nicht erhebliche Zweifel an der Wirksamkeit die Partystimmung trübten. Wie kam es zu der umstrittenen Zulassung von Aducanumab? Und welche Bedeutung hat die Entscheidung der FDA für Neurologen und Psychiater in Deutschland?

Aducanumab wird 1x pro Monat als Infusion verabreicht. Der Antikörper bindet lösliches und unlösliches Beta-Amyloid im Gehirn und führ zu einer starken Reduktion des neurotoxischen Peptids. Nicht abschließend geklärt ist allerdings, ob die Beta-Amyloid Ablagerungen im Gehirn tatsächlich die Ursache der Alzheimer-Demenz ist oder nur einer von mehreren Schritten in einer pathogenetischen Kaskade, möglicherweise auch nur ein Epiphänomen. Zwei große Phase-III Studien haben die klinische Wirksamkeit der Amyloidreduktion im Gehirn untersucht. Das Ergebnis ist ernüchternd. Und trotzdem bietet sich eine Chance für ein Umdenken bei der Behandlung der Alzheimer-Demenz.

Wechselhafte Vorgeschichte

Im März 2019 teilte der Hersteller Biogen nach einer Interminsanalyse mit, die beiden plazebokontrollierten und voneinander unabhängig durchgeführten Phase-III-Studien „Engage“ und „Emerge“ wegen fehlender Wirksamkeit abzubrechen (2, 3). Während die Zwischenanalyse lief, wurden jedoch weitere Patienten eingeschlossen. Im Oktober 2019 zeigte dann eine weitere Auswertung von jetzt ca. 3200 Studienteilnehmern in einer der beiden Studien (Emerge), einen positiven klinischen Effekt während in der anderen Studie (Engage) die klinischen Endpunkte verfehlt wurden. Die Probanden aus der Emerge-Studie, die Aducanumab in der höchsten Dosierung bekamen, hatten den größten Effekt. Beim Testverfahren „CDR-SB“ verschlechterten sich die Probanden mit hoher Dosierung nach 78 Wochen um 0,39 Punkte bzw. 22 Prozent weniger, als die Placebogruppe. Beim Mini-Mental-Status-Test (MMST) lag der Vorteil bei 0,6 Punkten bzw. 18 Prozent. In beiden Studien wurde allerdings eine sehr deutliche Abnahme der Amyloidplaques im Gehirn gegenüber Placebo beobachtet. Zu den Risiken der Behandlung gehören MRT-Veränderungen, die als „Amyloid-related imaging abnormalities“ (ARIA) bezeichnet werden und auch bei anderen Antikörpern beobachtet wurden. Ihnen liegt vermutlich ein Hirnödem zugrunde, möglicherweise auf der Grundlage einer Störung der Blut-Hirn-Schranke. Die Häufigkeit lag immerhin bei 35% (gegenüber 3% in der Placebogruppe). Bei 21% trat die ARIA in Verbindung mit Mikroblutungen auf. Die klinische Bedeutung der ARIA ist noch unklar. Die MRT-Veränderung bilden sich nach Absetzen der Substanz zurück. Kopfschmerzen (21 % versus 16 %), Stürze (15 % versus 12 %), Diarrhö (9 % versus 7 %) sowie kognitive Funktionsstörungen (Verwirrung, Delirium, und Desorientierung (8 % versus 4 %) sind weitere unerwünschte Wirkungen von Aducanumab.

Prüfverfahren

Und dennoch – leicht hat es sich die FDA nicht gemacht. Sie hat zunächst die wissenschaftlichen Daten einer sehr strengen Prüfung unterzogen. Die Behörde gelangte dabei zunächst zu dem Ergebnis, das die beiden Zulassungsstudien keinen Beleg für eine ausreichende Wirksamkeit geliefert hatten. Eine reguläre Zulassung lehnte die Behörde im Herbst 2020 daher ab und folgte der Empfehlung ihrer Berater. Wegen des hohen gesundheitspolitischen Druckes entschied sich die Behörde zu einer weiteren Prüfung innerhalb eines sogenannten beschleunigten Zulassungsverfahrens („accelerated approval)“. Nach dem amerikanischen Gesetz ist diese Form der Zulassung dann möglich, wenn eine Prüfsubstanz zur Behandlung einer schweren Erkrankung mit hinreichender Wahrscheinlichkeit („reasonably likely“) einen Vorteil für Patienten gegenüber verfügbaren Behandlungen bietet. Anders gesagt: das beschleunigte Zulassungsverfahren findet für Prüfsubstanzen Anwendung, die zwar noch mit einem gewissen Maß an Unsicherheit belegt sind, aber möglicherweise eine schwere Erkrankung doch günstig beeinflussen könnten. Dabei können auch Surrogat-Parameter berücksichtigt werden. Dieses Sonderzulassungsverfahren wurde eingerichtet, um Patienten mit schweren Erkrankungen ohne wirksame Therapie Zugang zu innovativen Behandlungsmethoden anzubieten. Viele dieser Patienten nehmen die Unsicherheit bei der klinischen Wirksamkeit in Kauf.

Während die Daten der klinischen Endpunkte nicht einheitlich waren, zeigten beide Studien einen sehr robusten und starken Effekt auf die Abnahme der Amyloidlast im Gehirn, dem vielleicht wichtigsten Biomarker der Alzheimer-Demenz. Die Reduktion der Amyloidplaques korrelierte nach Auffassung der Prüfbehörde mit einer langsameren Krankheitsprogression und ließ den klinischen Nutzen damit hinreichend wahrscheinlich erscheinen. Berücksichtigt hatte die FDA dabei auch, dass die Plaqueabnahme im Gehirn durch Aducanumab in diesem Umfang bisher einzigartig war und so von keiner anderen Substanz gezeigt wurde. Wegen der noch bestehenden Unsicherheit hat die FDA entschieden, den Hersteller zu verpflichten, zeitnah weitere Daten zur klinischen Wirksamkeit vorzulegen und sich später eine Revision der Zulassung vorzubehalten.

Bedeutung für Deutschland

Soweit die Situation in USA. Auch der europäischen Arzneimittelbehörde EMA liegt ein Zulassungsantrag vor. Wie die EMA reagieren wird, ist indes völlig offen. Dass sie eine vergleichbar breite Zulassung für alle Stadien der Alzheimer-Demenz erteilen wird, ist unwahrscheinlich. Denn die im beschleunigten Zulassungsverfahren der FDA berücksichtigte hinreichende Wahrscheinlichkeit eines klinischen Nutzens betrifft, wenn überhaupt, nur die sehr frühen Krankheitsstadien der Alzheimer-Demenz und leichte kognitive Störungen.

Möglichkeiten der Diagnostik und Behandlung bestehen schon heute

Frühe AD- und MCI-Patienten werden unweigerlich die wichtigste Zielgruppe im Kampf gegen die Krankheitsprogression werden. Um diese Patienten müssen wir uns als Fachärzte deswegen jetzt schon ganz besonders kümmern. Ungeachtet neuer (und bestehender) pharmakologischer Therapien profitieren Patienten im früheren Krankheitsstadium besonders gut von nicht-medikamentösen Therapien. Dazu gehört in erster Linie die Kontrolle von Gefäßrisikofaktoren, körperliches und geistiges Training sowie eine vitaminreiche und ballaststoffreiche Ernährung (5). Endgültig verabschieden müssen wir uns auch von dem Paradigma einer rein klinischen Diagnostik der Alzheimer-Demenz. Seit Einführung der A-T-N Klassifikation im Jahr 2018 kann die für die Alzheimer-Erkrankung typische Pathologie im Liquor eindeutig nachgewiesen werden. Die differenzialdiagnostische Abgrenzung gegenüber anderen Formen der Demenz ist damit heute mit hoher Sicherheit möglich. Für diese Untersuchung müssen wir Fachärzte für Neurologie und Psychiatrie in unseren Praxen bereitstehen und Verantwortung übernehmen. Die neuropsychiatrischen Berufsverbände arbeiten gegenwärtig mit Hochdruck daran, die Honorarbedingungen für die Lumbalpunktionen und Testdiagnostik zu verbessern.

Was können (und sollten) wir jetzt schon tun?

Viele von uns sind sehr engagiert in der Behandlung der Alzheimer-Demenz. Für einige bietet sich die Möglichkeit, einen Schwerpunkt für die Behandlung der Alzheimer-Demenz einzurichten. Neuropsychologische Testdiagnostik und Liquordiagnostik sollten hier Minimalanforderungen sein. Nicht alle Praxen werden diese Infrastruktur vorhalten können. Hier können regionale Praxisnetze entstehen, die die Zuständigkeiten für diagnostische Verfahren und einfache Zuweisungswege regeln. Wesentlich verbessern müssen sich auch Beratungs- und Weiterbildungsangebote für Betroffene und Angehörige zur Stärkung der Selbsthilfe und Autonomie. Innerhalb der Regelversorgung sind diese Angebote nicht zu leisten. In professionell gesteuerten großen Netzwerken – wie etwa Neurologisch-psychiatrischen-psychotherapeutische Versorgung (NPPV) – werden Neuro-und Psychoedukation hingegen breit angeboten, stark nachgefragt und angemessen vergütet (6). Diese nicht-medikamentösen Therapieangebote haben eine hohe Akzeptanz unter Patienten und Ärzten und sind hochwirksam. Hier kann der Aufbruch beginnen. Und er bedarf keiner behördlichen Zulassung.

Autor

Prof. Dr. Gereon Nelles
Neuromed-Campus
Werthmannstr. 1c
50935 Köln
T 0221-943812-0
F 0221-943812-29