Werkstattgespräch mit Daniel Bahr in Aachen
Hirnerkrankungen sind die größte Herausforderung des Gesundheitssystems
„Die Politik hat die Zunahme der Demenzerkrankungen und die Herausforderungen für das Gesundheitswesen lange völlig unterschätzt.“ Das sagte Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) am 16. November bei einem Werkstattgespräch mit dem Vorsitzenden des Berufsverbandes Deutscher Nervenärzte (BVDN) und Vorsitzenden der Vertreterversammlung der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Nordrhein, Dr. Frank Bergmann, in Aachen. Er betonte, die angekündigte Pflegereform solle im Sommer 2012 in Kraft treten und vor allem Familien entlasten, die Demenzkranke betreuen. Dafür stünden dann rund 1,1 Milliarden Euro zusätzlich zur Verfügung. Gleichzeitig werde eine Expertenkommission einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff erarbeiten. Die Umstellung auf dann möglicherweise fünf Pflegestufen statt bislang drei werde aber mindestens zwei bis drei Jahre brauchen. „Das wird dann auch mehr kosten als bisher“, sagte der Minister.
Bergmann begrüßte die zusätzlichen Mittel für die Betreuung Demenzkranker. Der BVDN-Vorsitzende betonte aber, nicht nur die Demenz, sondern auch andere Erkrankungen des Gehirns wie Schlaganfälle, Depressionen, Parkinson und andere seien auf dem Vormarsch. „Nach aktuellen Studien werden die ZNS-Erkrankungen vor Krebs- und Herzleiden die häufigsten und am stärksten belastenden Krankheiten für unser Gesundheitswesen sein“, sagte Bergmann.
An dem Werkstattgespräch nahmen außerdem teil der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Nordrhein, Dr. Dieter Potthoff, Prof. Ute Habel von der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Uniklinikums Aachen, Prof. Nicole Kurth, Lehrstuhl für Allgemeinmedizin am Uniklinikum Aachen, und Gabriele Molitor, FDP-Bundestagsabgeordnete und Mitglied des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages. Der Bundesgesundheitsminister besuchte Bergmann im Aachener Zentrum für Neurologie und seelische Gesundheit, um sich in der Praxis vor Ort über die Situation der neurologisch-psychiatrischen Versorgung zu informieren. In der anschließenden Diskussion beriet er mit den übrigen Vertretern, welche Weichen die Politik stellen muss, damit Patienten mit Hirnerkrankungen künftig eine gute Versorgung erhalten.
Fachärzte fordern eigenes Versorgungssegment
„Nur eine konzertierte Aktion aller Beteiligten kann die augenblickliche und künftig immer gravierendere Unterversorgung bei neurologisch-psychiatrischen Patienten verhindern“, betonte Bergmann. Dazu gehöre zunächst, dass die Politik den besonderen gesetzgeberischen Versorgungs- und Regelungsbedarf in dem Segment der Hirnerkrankungen anerkenne, der mindestens ein Drittel aller Erkrankten im Deutschen Gesundheitswesen betreffe.
Sinnvolle Behandlungsketten definieren
Zweitens sei es notwendig, alle an der Versorgung Beteiligten effektiv miteinander zu vernetzen. Dazu seien transparente Behandlungspfade für die verschiedenen Krankheiten wichtig. Sie regeln genau, welche Akteure wann tätig werden und die Patienten wohin weiterleiten. Diese auf die regionalen Verhältnisse abgestimmten Behandlungsketten sollten Hausärzte, niedergelassene Neurologen, Nervenärzte und Psychiater ebenso einschließen wie spezialisierte Krankenhausangebote, Pflegedienste und psychosoziale Beratungs- und Hilfsangebote.
Wichtig sei, gravierende Erkrankungen möglichst früh zu erkennen. Beim Verdacht auf eine solche Erkrankung sollten daher Fachärzte die einleitende Diagnostik und Therapie vornehmen. Danach könnten Hausärzte die Patienten über lange Zeit versorgen. Bei besonders schwierigen diagnostischen und therapeutischen Fragestellungen sollten Fachärzte die Patienten an entsprechende Krankenhausabteilungen überweisen. Das gewährleiste, dass hoch spezialisierte fachärztliche Expertise denjenigen Patienten zugute komme, die diese Expertise wirklich benötigten. „Nur so können wir gewährleisten, dass die vorhandenen finanziellen und personellen Ressourcen effektiv genutzt werden“, so Bergmann.
Dass dies in Anbetracht des Ärztemangels immer dringender wird, betonte der KV-Vorsitzende Dr. Dieter Potthoff. Die Sicherstellung der Versorgung werde bei zunehmender Morbidität und einer abnehmenden Zahl von Haus- und anderen Ärzten immer schwieriger.
Die Bedeutung einer vernetzten guten Zusammenarbeit betonten auch Prof. Ute Habel von der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Uniklinikums Aachen und Prof. Nicole Kurth, Lehrstuhl für Allgemeinmedizin am Uniklinikum Aachen. Die Klinik könne in der Zusammenarbeit unter anderem spezielles diagnostisches Know-how bieten. So werde es möglich Demenzen und andere Erkrankungen möglichst früh zu erkennen, so Habel. Kurth betonte die Bedeutung gemeinsamer Fortbildungen und Qualitätszirkel, damit Leitlinien in der Praxis umgesetzt würden.
Hintergrund
Die Bevölkerung in Deutschland wird immer älter: Die Zahl der über 60-Jährigen steigt von 20,4 Prozent im Jahr 1991 auf rund 31 Prozent 2020 (1).
Es steigt auch die Zahl altersbedingter Erkrankungen und damit der ärztliche und pflegerische Versorgungsbedarf. Laut einer Analyse der Universität Dresden wird sich die Zahl der Demenzkranken in den nächsten zwei bis drei Jahrzehnten von jetzt 1,1 auf 2,2 Millionen Betroffene verdoppeln (2). Depression, Demenz, Alkoholabhängigkeit und Schlaganfall werden laut der Analyse die belastendsten Erkrankungen für das Gesundheitswesen sein, noch vor Krebs- und Herzleiden (2).
Neben den höheren Erkrankungszahlen wird der medizinische Fortschritt die Kosten steigern. Bei Fortschreibung des bisherigen Leistungsspektrums in der gesetzlichen Krankenversicherung und der augenblicklichen Versorgungsstrukturen rechnen Experten mit einem hypothetischen Beitragssatz von 52 Prozent im Jahr 2060 (1).
(1) Beske, Brix, Schriftenreihe Fritz Beske Institut für Gesundheits-System-Forschung, Band 121, Kiel 2011
(2) Wittchen et al., European Psychopharmacology, 2011; 21:655-679