Die unbekannte Krankheit: Kinder und Jugendliche mit MS
Wenige spezialisierte Ärzte, kaum zugelassene Medikamente, Stigmatisierung im Alltag und Betreuungsprobleme in den Familien.
Auf die besonderen Probleme von Familien mit an Multipler Sklerose (MS) erkrankten Kindern haben der Berufsverband Deutscher Neurologen (BDN) im Spitzenverband ZNS (SPiZ), das Kinder-MS-Forum und die Hertie-Stiftung hingewiesen.
„In Familien, bei denen ein Kind an MS erkrankt, muss ein Elternteil normalerweise den Beruf aufgeben. Keiner erwartet diese Erkrankung bei Kindern oder Jugendlichen, das Leben der Familien bricht meist völlig zusammen!“ Das berichtet Silke Groll, Gründerin und Betreiberin des Kinder-MS-Forums, bei der Verleihung des Hertie-Preises für Engagement und Selbsthilfe Mitte Januar in Grevenbroich.
MS tritt kann in allen Altersklassen auftreten, meist bei Erwachsenen um das 30. Lebensjahr, aber nur vereinzelt bei Jugendlichen und Kindern. Diese Gruppe selten Betroffener hat daher so gut wie keine Lobby und auch Hilfestellung gibt es kaum.
2012 stellten Neurologen bei Grolls damals 15 jähriger Tochter die Diagnose MS. „Das war für mich wie ein Schlag. Spezialisierte Ärzte sind rar und oft weit entfernt, die Anreise teuer, wir hingen in der Luft“, berichtet Groll. Sie gründete eine Facebookgruppe, bei der sich mittlerweile rund 150 Familien mit MS-Kindern austauschen, von den Erfahrungen anderer profitieren und neuen Mut fassen. Die Hertie-Stiftung unterstützt ihr besonderes Engagement und die Angebote des Forums jetzt mit dem Preis.
Nach Grolls eigenen Erfahrungen und dem Austausch im Forum haben die Familien besonders Fragen zur ärztlichen Versorgung: „Wo gibt es Spezialisten, die die Versorgung übernehmen können? Wie sollen Berufstätige die Arzttermine mit ihren Kindern wahrnehmen?“, berichtet sie. Außerdem hätten viele Betroffene Fragen zur Medikation.
Aber fast ebenso wichtig und drängend sind die sozialen Folgen der Erkrankung: „Was sollen Alleinerziehende tun, wenn ihre Kinder krank sind und sie arbeiten müssen? Wer kann bei Problemen zwischen jugendlichen MS-Patienten und ihren Eltern vermitteln?“, nennt Groll Beispiele. Das Forum versucht zu helfen, wo es möglich ist, zum Beispiel mit so genannten Leih-Omas, die in die Familien kommen und die Betreuung übernehmen, wenn die Eltern arbeiten müssen.
Der BDN-Vorsitzende Dr. Uwe Meier fasst die wichtigsten Probleme der Ärzte zusammen. Da ist zunächst das Problem, dass viele MS-Therapeutika nicht für Kinder zugelassen sind und daher im sogenannten Off-Label-Use verwendet werden müssen. Die Ärzte tragen dabei das Haftungsrisiko.
„Dann die oft empörende Stigmatisierung der Patienten“, so Meier. Da sind Schulen, die den Kindern die Teilnahme an der Klassenfahrt verweigern, hilflose Sportlehrer, die die Kinder vom Unterricht ausschließen wollen, Kieferorthopäden, die keine Zahnklammer anpassen wollen ohne Unbedenklichkeitsbescheinigung des Neurologen und vieles mehr. Das Hauptproblem ist laut Meier aber die Zeitknappheit des Arztes. „Kinder und Jugendliche mit MS und ihre Eltern brauchen sehr viel Zuwendung und individuelle Beratungen. Der Neurologe ist hier auch gleichzeitig Psychologe und Sozialarbeiter in einer Person. Dies erfordert bei Fallwerten zwischen 30 und 60 Euro für drei Monate Behandlung ausgesprochen viel Engagement“, so der Berufsverbandsvorsitzende. Der Spitzenverband ZNS fordert daher Leistungsanreize und eine Weiterentwicklung der Vergütungsstrukturen, die es Neurologen und Nervenärzten erlauben, diese Patienten individualisiert zu betreuen.
Die Gemeinnützige Hertie-Stiftung hat den Hertie-Preis für Engagement und Selbsthilfe zum 22. Mal verliehen und Mitte Januar 2014 an Silke Groll überreicht. Er zeichnet vorbildliche Aktivitäten von Selbsthilfegruppen und engagierten Menschen im Bereich der MS und der neurodegenerativen Erkrankungen aus.
Infos zum Forum Kinder und Jugendliche mit MS
Berufsverband Deutscher Neurologen